„Wenn das Jahr um mich herum atmet“ – Eine Erzählung aus dem Bauernjahr

Manchmal, wenn ich am Waldrand stehe und in die Weite schau, scheint es mir, als atme das Jahr selbst.

Mal lang und ruhig, mal kurz und hastig, und dazwischen immer wieder ein Herzschlag, der seinen Klang von alten Festen her nimmt.

Die Alten im Dorf sagten immer: „Nach dem Kirchenjahr kannst du dein Leben richten, so wie nach dem Stand der Sonne.“

Und recht hatten sie.

Advent – die stillen Schritte ins Licht

Wenn die Nächte lang werden und das Vieh früher in den Stall drängt, fängt für uns die stille Zeit an.

Im Advent zündeten wir Kinder die Laternen an und gingen zur Rorate.

Noch war’s stockdunkel, und der Schnee knirschte unter den Füßen wie altes Pergament.

Im Dorf hörte man die Hunde kaum, so weich lag die Kälte.

In den Klopfnächten gingen wir ums Haus, pochten mit Zweigen an die Türen und flüsterten Schutzsprüche, damit kein Unheil einzieht.

Nichts Lautes, nichts Verwegens – eher eine Art Gespräch mit der Dunkelheit.

Weihnachten – das Licht im Stall

Zu Weihnachten war das ganze Haus anders.

Der Christbaum trug Äpfel, Nüsse und Strohsterne, die wir selbst gebunden hatten.

Der Duft von Wachs und Fichte lag in der Stube, und draußen knisterte die klare Nacht wie eine alte Geige.

Zwischen den Tagen, wenn ein Jahr sich dem anderen übergab, zogen wir durchs Haus und den Stall, Räucherpfanne und Weihwasser in der Hand.

Das Vieh schaute uns mit großen Augen an, und man wusste:

Hier wird nicht nur der Rauch gebraucht, hier geht’s auch ums Herz.

Am Dreikönigstag schrieb der Vater mit gesegneter Kreide über die Tür.

C + M + B – nicht nur drei Buchstaben, sondern ein Schutzschild gegen alles, was ein Jahr lang kommen mag.

Lichtmess – der Wendepunkt

Wenn der 2. Februar kam, versprach man sich schon ein wenig Frühling.

„Aussa wennt, eini wennt’s“, sagten die Alten, und man meinte damit, dass sich das Licht von nun an spürbar zurückkämpft.

Die Kerzen wurden geweiht, die Knechte und Dirnen bekamen ihren Lohn – und so mancher suchte sich einen neuen Hof, ein neues Leben vielleicht.

Fastenzeit – die Reinigung

Zur Fastenzeit hörte der Fasching mit einem letzten Lachen auf, und wir holten die Ratschen aus der Speis.

Der Aschermittwoch schmeckte nach Hering, Salz und Stille.

In manchen Tälern zogen die Burschen das Bloch durchs Dorf – ein mächtiger Holzstamm, Symbol für den begrabenen Winter.

Manchmal war’s ein wilder Spaß, manchmal bitterer Ernst.

Karwoche – die große Stille

In der Karwoche wurde selbst der Wald leiser.

Nur die Amseln sangen, als hätten sie vergessen, welches Datum es war.

Wir Buben gingen mit den Ratschen von Hof zu Hof, und das harte Klackern war der einzige Klang, der erlaubt war.

Es hatte etwas Ehrliches – wie trockene Äste, die brechen.

Am Karsamstag brachten wir die Körbe zur Weihe:

Eier, Schinken, Salz, Brot.

Das waren nicht nur Speisen – das war die Seele des Hauses.

Ostern – wenn alles neu wird

Zu Ostern stand der Wind anders.

Er roch nach Erde, die wieder atmete.

Beim Osterfeuer sah man die Funken bis weit auf die Hänge steigen.

Wir holten uns eine Flamme nach Hause und entzündeten den Herd neu, als würde mit jedem Funken ein Stück Zukunft entfacht.

Danach wurde Eierpecken gespielt – und ich sag dir:

Wenn du als Kind ein Holzei erwischt hast, dann durftest du dich für ein paar Tage König der Welt nennen.

Frühjahr – die erwachenden Felder

Mit Palmsonntag kamen die gesegneten Zweige ins Haus.

Man steckte sie in den Stall, an die Dachbalken, an die Feldränder –

nicht aus Aberglauben, sondern aus einer Art Liebe zur Welt.

„Hilf uns, dass alles gut geht“, sagten die Hände, die die Zweige steckten.

Vor Christi Himmelfahrt gingen wir durch die Felder, die Bittprozession vorneweg.

Man bat um Regen, wenn’s trocken war, und um Sonne, wenn’s zu viel regnete.

Kurzum: man bat ums rechte Maß – das Wichtigste im Leben.

Dann kam Fronleichnam, das große Fest nach Pfingsten.

Da zog man wieder aus, diesmal nicht bittend, sondern dankbar und feierlich.

Mit Fahnen und Musik ging es durch die Dörfer und an den Feldern vorbei, und man spürte:
Jetzt segnet Gott nicht nur die Bitte, sondern das ganze Land, das in voller Kraft steht.

Sommer – die Fülle

Der Sommer brachte mehr Bräuche, als man zählen kann.

Zu Johanni wurden die Kräuter geschnitten, die später auf den Ofen kamen oder in den Tee.

Und in manchen Jahren sprangen die Jungen über die Johannisfeuer – laut lachend, mit Funken in den Haaren.

Zu Maria Himmelfahrt banden die Frauen ihre Kräuterbuschen – duftende, volle Sträuße, die aussahen wie ein Stück Himmel.

Sie wurden geweiht, und wer krank war, bekam im Winter einen Tee daraus.

So kam der Sommer in die kalte Jahreszeit zurück.

Herbst – die Ernte und das Gedenken

Im Herbst wurde die Erntekrone gebunden – ein kleines Wunderwerk aus Ähren und Kräutern.

Sie stand für Dank, aber auch fürs Loslassen.

Zu Allerseelen ging man schweigend über den Friedhof.

Kerzen leuchteten wie kleine Lagerfeuer der Erinnerung.

Winter – die lange Ruhe

Zu Martini endete das Bauernjahr.

Die Tiere kamen in den Stall, und die Menschen auch – in gewisser Weise.

Dann begannen sie, die Perchten, mit ihren Masken und Schellen.

Sie zogen durchs Dorf, wild und ungezähmt, um das Dunkle und Kalte zu vertreiben.

Wir Kinder hatten Angst – aber eine gute Angst, die das Herz lebendig hält.

Und so geht das Jahr

Und wenn ich heute über die Felder gehe, dann spür ich all diese Feste, Bräuche und Zeichen noch immer.

Das Kirchenjahr war für uns nicht nur Religion – es war Kompass, Kalender und Trost.

Eine Sprache, die die Bauern kannten, lange bevor sie lesen konnten.

So atmet das Jahr.

Und mit ihm atmet, wer im Einklang damit lebt.

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Das Kirchenjahr 

Bauernbräuche im kirchlichen Jahreslauf 

Fronleichnam – das blühende Fest des lebendigen Glaubens

Engel im kirchlichen Jahreskreis 

„Vom Licht im Dunkel – Die Farben der Adventkerzen“ 

Die wichtigsten Schutzpatrone – himmlische Begleiter durchs Jahr