
Österreichs Staatsvertrag und Neutralität: Selbstbestimmte Souveränität statt fremdem Diktat
Wenn heute über Österreichs Neutralität diskutiert wird, taucht oft ein hartnäckiges Narrativ auf: Die immerwährende Neutralität sei von der Sowjetunion „aufgezwungen“ worden und daher ein Relikt des Kalten Krieges, das man nun – im neuen sicherheitspolitischen Umfeld – abstreifen müsse.
Wer sich jedoch die historischen Abläufe genau ansieht, erkennt rasch: Dieses Bild ist unvollständig und irreführend. Neutralität war kein sowjetisches Geschenk und keine sowjetische Bedingung. Sie war letztlich eine österreichische Entscheidung, getroffen aus klaren strategischen Überlegungen heraus – und sie wurde zum Fundament der österreichischen außenpolitischen Identität.
Der Staatsvertrag 1955: Der Schlüssel zur Freiheit – aber ohne Neutralität im Text
Der Österreichische Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 zwischen Österreich und den vier alliierten Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion unterzeichnet.
Er stellte Österreichs volle Souveränität wieder her und beendete die zehnjährige Besatzungszeit.
Entscheidend ist:
Der Staatsvertrag enthält keinerlei Verpflichtung zur Neutralität.
Keine Passage schreibt Österreich vor, einen neutralen Status zu wählen. Keine Siegermacht – auch nicht die Sowjetunion – konnte Österreich rechtlich dazu zwingen.
Was der Staatsvertrag jedoch tat, war den Weg in die Unabhängigkeit freimachen und damit die Möglichkeit eröffnen, außenpolitisch einen eigenständigen Weg zu gehen.
Warum kam die Neutralität dann überhaupt?
Der Hintergrund liegt weniger in Zwang, sondern im politischen Klima der frühen 1950er:
- Die Westmächte wollten ein stabiles, demokratisches Österreich im europäischen Staatenverbund.
- Die Sowjetunion wollte verhindern, dass Österreich Teil eines militärischen Westbündnisses – insbesondere der NATO – wird.
- Österreich selbst brauchte eine außenpolitische Position, die Sicherheit, internationale Anerkennung und ökonomische Öffnung versprach.
Für Österreich lag darin ein geopolitischer Vorteil:
Neutralität ermöglichte es, sowohl im Westen wirtschaftlich integriert zu sein als auch mit dem Osten dialogfähig zu bleiben. Sie machte Österreich zum Brückenbauer – diplomatisch wie ökonomisch.
Die Entscheidung fiel daher nicht am Verhandlungstisch der Siegermächte, sondern später im frei gewählten österreichischen Parlament.
26. Oktober 1955: Die bewusste Entscheidung zur immerwährenden Neutralität
Die Neutralität wurde erst nach dem Abzug der letzten Besatzungstruppen beschlossen – als souveräne Handlung eines souveränen Staates.
Das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität war eine bewusste innenpolitische Weichenstellung.
Es war ein strategischer Entschluss, der im damaligen Ost-West-Konflikt klare Vorteile bot:
- Es ermöglichte Österreich, aus dem Spannungsfeld der Militärblöcke herauszubleiben.
- Es schuf diplomatische Glaubwürdigkeit, die Wien später zu einem der wichtigsten internationalen Standorte machte.
- Es stärkte die internationale Akzeptanz Österreichs als Vermittlerstaat.
Die oft wiederholte Behauptung, die Sowjetunion habe die Neutralität diktiert, hält der historischen Faktenlage schlicht nicht stand.
Warum dieses Narrativ trotzdem fortbesteht
Das Argument vom „sowjetischen Diktat“ erfüllt heute eine klare politische Funktion:
Es soll die Neutralität als veraltet, unfreiwillig und ideologisch belastet erscheinen lassen, um sie leichter zur Disposition zu stellen.
Doch genau das verkennt die historische Realität:
- Die Neutralität wurde nicht aufgezwungen, sondern frei beschlossen.
- Sie war kein russisches Instrument, sondern ein österreichisches machtpolitisches Kalkül.
- Sie war ein Motor der außenpolitischen Erfolge Österreichs – vom Osthandel über den KSZE-Prozess bis zu den UNO-Standorten in Wien.
Was bedeutet das für die heutige Debatte?
Gerade in einer zunehmend polarisierten europäischen Sicherheitsdebatte ist es wichtig, nüchtern zu bleiben.
Österreichs Neutralität ist kein Relikt, sondern ein Teil der österreichischen Identität und außenpolitischen Marke.
Wer heute eine Aufgabe der Neutralität fordert, sollte dies offen tun – aber nicht auf Basis des Mythos, sie sei einst fremdbestimmt entstanden.
Denn ein souveräner Staat, der seine Neutralität frei beschlossen hat, sollte sie auch nur frei, bewusst und demokratisch legitimiert ändern oder aufgeben.
Fazit
Die Geschichte zeigt:
Österreichs immerwährende Neutralität ist ein Produkt österreichischer Entscheidungskraft, nicht sowjetischer Zwangspolitik.
Sie war ein erfolgreicher strategischer Weg – und sie gab Österreich jene Rolle in der internationalen Politik, von der das Land jahrzehntelang profitierte.
Ob Österreich diesen Weg weitergehen will oder nicht, ist eine berechtigte politische Diskussion.
Aber sie sollte auf Tatsachen beruhen – und nicht auf Mythen.
- - - - -
zu 